Sonntag, 14. Mai 2006
Krankenhäuser
Eigentlich fand ich Krankenhäuser nie schlimm. Weder den Geruch, noch die Atmosphäre, die Ärzte oder die anderen Patienten.
Das, was Krankenhäuser ausmacht, ist etwas anderes: Die Beziehungen untereinander verändern sich. Man ist nicht mehr nur Freund, Freundin, Elternteil, Kind, Kollege oder Ehepartner. Man ist nun auch Patient oder Besucher. Nach meinem Empfinden ergibt sich daraus eine bizarre und künstliche Situation.
Man redet und verhält sich anders aufgrund der gezwungenen Situation. Je schlimmer die Krankheit oder Verletzung ist, umso schwieriger werden die Rollen, insbesondere beim ersten Besuch.
Als ich Andreas nach dem Unfall das erste Mal besuchte, wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
Ich hätte ihn am liebsten umarmt, geküsst, festgehalten und ihm gesagt, dass bestimmt alles gut wird, dass ich da bin, egal was kommt. Dinge, die sich zu banal anhörten, um der Situation gerecht zu werden und die vielleicht in eine Folge von Emergency Room oder der Schwarzwaldklinik passten, aber die diesem Moment nicht gerecht wurden.
Ich erschrak, als ich ihn wiedersah. Er war kreidebleich, eingegipst, verbunden und an Geräte angeschlossen. Er sah so zerbrechlich aus, dass ich kaum wagte, ihn zu berühren.
Als ich seine Hand nahm, öffnete er die Augen und sah mich an. Auch er sagte nichts. Vielleicht gab es soviel zu sagen, dass keiner von uns damit anfangen wollte.
Bis heute haben wir bestimmte Themen ausgespart. Zukunftsthemen. Es scheint wie ein stilles Übereinkommen zwischen uns zu sein. Wir reden über das Jetzt- schließlich weiß keiner, wann unsere Zukunft eigentlich anfängt und unter welchen Umständen sie stattfinden wird.

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Donnerstag, 11. Mai 2006
Wie alles anfing
Vor zwei Monaten haben wir uns nach 9 Jahren wiedergesehen. Einfach so, mitten in Bremens Fußgängerzone.

Zuerst habe ich ihn gar nicht erkannt, er mich allerdings sofort.

Wir gingen Kaffee trinken- geschlagene vier Stunden saßen wir dort und es war, als wären die neun Jahre nie vergangen.
Wir waren in der Schule seit der 7. Klasse befreundet gewesen- mal mehr, mal weniger. In der Oberstufe waren wir für ein paar Monate ein Paar, kurz vor dem Abi trennten wir uns und verloren uns aus den Augen.

Bis zu jenem Tag.

Andreas sah verändert aus. Erwachsener. Aber dennoch so vertraut. Und sexy.

Eigentlich war ich nicht auf der Suche nach einer neuen Beziehung, doch dieser Tag veränderte alles. Bereits als wir uns zum Abschied umarmten, hatte ich das Gefühl wieder zu Hause zu sein. Irgendwie hatte sich die Nähe zwischen uns über die Jahre hinweg gerettet.

Wir telefonierten-noch am selben Abend. Und trafen uns am nächsten Abend. In seiner Wohnung.
Ich kann die Details dieses Abends nicht mehr chronologisch ordnen, aber ich erinnere mich, dass wir viel erzählt und viel gelacht haben. Und ich erinnere mich, dass wir uns geküsst haben und miteinander geschlafen haben. Es tat so gut, ihn in mir zu spüren, seinen Atem zu hören.

Ich bin eigentlich keine kitschige Träumerin, aber dennoch war es so: Seit diesem Abend wussten wir, dass wir uns nicht wieder verlieren wollten.

Die nächsten Wochen waren wie ein Rausch. Wir verbrachten jede freie Minute miteinander, genossen einander und schmiedeten wilde Zukunftspläne wie alberne Teenager.

Diese rosarote Wolkenwelt zerplatzte am 1. Mai 2006, als um 23.15 Uhr das Telefon klingelte. Es war Andreas Schwester, die mir erzählte, was passiert war.
Zwanzig Minuten später war ich im Krankenhaus.

Ein überholendes Auto hatte Andreas' Motorrad frontal erfasst- u.a. Oberschenkeltrümmerbruch, offener bruch der Kniescheibe, Sprunggelenksbruch, Milzentfernung, Leberriß und Hirnblutung. Notoperation.

Ich durfte ihn in dieser Nacht nicht mehr sehen.

Seitdem spielt sich eigentlich all meine freie Zeit im Krankenhaus ab. Andreas Zustand ist nicht mehr lebensgefährlich, aber er liegt dennoch auf der Intensivstation. Es ist schlimm, ihn jeden Tag so am Rande seiner Kräfte und unter Schmerzen zu sehen und zu wissen, dass man nichts dagegen tun kann.

Eigentlich ist unsere Beziehung zu jung, um sich so ernsthafte Gedanken über die Zukunft machen zu müssen- aber eigentlich ist unsere althergebrachte Bindung zu stark, um an einer Zukunft zu zweifeln.

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